Ein tragischer Schiffsuntergang und eine politische Verirrung
Im Krebsgang
Die Überschrift dieser Novelle hätte auch lauten können:
Die Geschichte der Wilhelm Gustloff – von der Kiellegung bis zur Versenkung – oder: die politischen Verirrungen eines Jünglings aus bürgerlichen Kreisen.
Denn beides hat Grass hier aufs Raffinierteste verwoben!
Zunächst geht es um das KdF-Schiff Wilhelm Gustloff und um die Geschichte ihres Namensgebers Wilhelm Gustloff, seines Zeichens Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz; sowie dessen Ermordung 1936 in Davos durch den schwerkranken Juden David Frankfurter, der für seine Leute ein Zeichen setzen wollte. Daraufhin wurde das frisch vom Stapel gelaufene Kreuzfahrtschiff zu Ehren Wilhelm Gustloffs nach diesem benannt.
Sodann geht es um die Torpedierung des Schiffes in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges durch ein sowjetisches U-Boot und den tragischen Untergang von geschätzt 9000 Menschen (die genaue Zahl ist nicht bekannt), darunter Kinder und Mütter, Flüchtlinge aus Ostpreußen, aber auch verletzte Soldaten, denn die Wilhelm Gustloff diente im Krieg als Lazarett-Schiff.
Nur etwas über 1200 Menschen konnten gerettet werden, darunter der fiktive Ich-Erzähler des Romans. Vielmehr seine mit ihm hochschwangere Mutter, die wie durch ein Wunder überlebte und ihn in derselben Nacht am 30. Januar 1945 gebar. Ein Überlebender wider Willen - als den er sich selbst bezeichnet -, ein Vater ohne Vater, der nie Vater hätte werden dürfen.
Mit der tragischen Geschichte der Wilhelm Gustloff bewegt sich der Erzähler seitwärts wie ein Krebs auf den eigentlichen Erzählstrang zu. Es geht um seinen politisch fehlgeleiteten Sohn, der dem Einfluss seiner Großmutter unterliegt, einer immer noch glühenden Stalin-Verehrerin. Die Mutter des Kindes sieht sich als geschiedene alleinerziehende Lehrerin überfordert und hat ihren Sohn, der als Außenseiter kaum soziale Kontakte pflegt, zu ihrer Mutter geschickt. Die schenkt ihm einen PC. Das Internet ist fortan seine Welt und Spielwiese. Seine Leidenschaft: Die Wilhelm Gustloff!
Auch sein Vater interessiert sich als Journalist und „Überlebender“ für das Thema und stößt bei seinen Recherchen auf eine seltsame Website. In deren Chatroom werden höchst fragwürdige Dialoge zwischen einem Neo-Nazi und einem angeblichen Juden geführt – gerade so als wären sie in die Rolle des Wilhelm Gustloff und seines Mörders geschlüpft.
Aufgrund einiger Formulierungen kommt dem Ich-Erzähler eines Tages ein furchtbarer Verdacht.
Äußerst spannend und raffiniert auf typische Grass'sche Art erzählt, mit unerwarteten Wendungen.
Vor allem aber hochaktuell – leider! Kaum zu glauben, dass Grass diese Novelle bereits 2002 veröffentlicht hat. Als wären keine 22 Jahre seitdem ins Land gegangen.
Daher: Immer noch – oder gerade jetzt! – absolut lesenswert.