das wohl bedeutendste Stück Nachkriegsliteratur
Die Blechtrommel
Grotesk, gruselig – und doch so genial!
Wie das Buch vom Fischerverlag in Kleinschrift von 1965 in meinen Bücherschrank geraten ist, weiß ich nicht. Und ob Die Blechtrommel Pflichtlektüre im Deutschunterricht war, daran kann ich mich beim besten Willen auch nicht erinnern. Falls ja, habe ich sie nicht gelesen.
Überhaupt habe ich Günter Grass erst spät für mich entdeckt. Grundsätzlich bin ich skeptisch bei hochgejubelten und mit Literaturpreisen überhäuften Literaten.
Neugierig auf das 1959 erschienene Grass’sche Meisterwerk bin ich erst durch die vernichtende Kritik von Marcel Reich-Ranicki geworden, dessen Autobiografie (siehe letzten Beitrag in dieser Kategorie) ich kurz zuvor gelesen hatte.
Da hatte es ein hoch angesehener Literaturkritiker doch tatsächlich gewagt, gegen den Strom zu schwimmen! Seine anfängliche Kritik hat er später allerdings revidiert, da sich die Blechtrommel zwischenzeitlich zum meist gelesenen Buch der Nachkriegsliteratur entwickelt hatte. Hm ...
Zum Inhalt brauche ich, glaube ich, nichts zu sagen. Der dürfte hinlänglich bekannt sein. Darum komme ich gleich zu der Wirkungsweise des Romans auf mich.
Manche Leser kritisierten Grass ja für seine „verschwurbelten Sätze“. Ich denke, diese sind der Fabulierwut des Autors und seiner Liebe zu Bandwurmsätzen geschuldet. Das hat mich jedoch keinesfalls abgeschreckt. Im Gegenteil, ich schätze den Grass’schen Schreibstil sehr, der mir bereits durch den "Butt" vertraut war. Für mich ist das wahre Wortkunst.
Erstaunlich schnell bin ich in "Die Blechtrommel" hineingesogen worden. Sodann ist sie wie eine Dampfwalze über mich hinweggerollt und hat mich befremdet bis verstört wieder ausgespuckt – wie damals die Schlöndorff-Verfilmung aus dem Jahre 1979 mit David Bennent in der Hauptrolle des Oskar Matzerath. Das hat aber weniger mit den darin geschilderten Gräueln der NS-Zeit zu tun als mit den vielen grotesken Szenen und der unterschwellig gruseligen Atmosphäre.
Was mich erstaunt hat, sind die vielen sexualisierten Szenen und abstoßenden Bilder, die diese erzeugen. Ich dachte immer, die 50er und frühen 60er Jahre wären so prüde gewesen. Selbst aus heutiger Sicht, wo wir doch alle durch Film und Fernsehen diesbezüglich längst abgestumpft sind, finde ich manche Schilderungen zumindest grenzwertig. Ob ein Lektorat solche in unseren politisch korrekten Zeiten noch durchgehen ließe?
Großartig finde ich dieses "schreckliche" Werk trotzdem. Warum? Weil Grass das Ganze wie ein groteskes Schauermärchen inszeniert und so all die menschliche Verirrung und Verrohung aufzeigt. Durch die Hauptfigur des kleinwüchsigen Oskars erzählt er die Schrecken der NS-Zeit aus einer Art „ungerührter“ Perspektive, was die Sache noch entsetzlicher macht.
Die Empathielosigkeit Oskars, stellverstretend für die einer ganzen Gesellschaft, ließ mich immer wieder erschauern. Wo Grausamkeit in allen Lebensbereichen – selbst unter spielenden Kindern – waltet, ist für Mitleid oder Mitgefühl kein Platz. Emotionen mussten offenbar tief vergraben werden, sonst hätte wahrscheinlich keiner diese Zeiten überlebt. Das erklärt auch die Gefühlskälte einer ganzen Generation, unter welcher die nachfolgenden zu leiden hatten.
Günter Grass alias Oskar Matzerath spricht in einem der letzten Kapitel „Im Zwiebelkeller“ deshalb auch von einem "tränenlosen Jahrhundert".
Zitat: „ … wird unser Jahrhundert später einmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich so viel Leid allenthalben – und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller.“ Das Häuten der Zwiebeln schaffte, was das Leid dieser Welt nicht schaffte: die runde menschliche Träne.
Wenn das kein starker Satz ist!
Und wie ist es Ihnen mit der Blechtrommel ergangen?