Science Fiction/Dystopie
Der Circle
Gruselig und großartig: „Schöne neue Welt” HEUTE!
Der 2014 erschienene Roman von Dave Eggers wird dem Genre Science-Fiction/Dystopie zugeordnet. Aber wer ihn heute - 10 Jahre später - liest, muss mit einer Gänsehaut erkennen, dass die in dem Roman geschilderten Entwicklungen längst Realität sind. Insofern handelt es sich eher um einen Aufklärungs- und Aufrüttelroman.
Hallo Iiebe Influencer, Online-Marketing-Berater, Digital-Coaches, Social Media-Junkies und Internet-Jünger weltweit. Dieses Buch wird euch hoffentlich die Augen öffnen!
Noch könnt ihr abspringen, noch könnt ihr eure Seele retten, noch könnt ihr eure Sucht besiegen – die Sucht nach Likes und Herzchen, nach Ratings und Rankings. Die Sucht nach SICHTBARKEIT und REICHWEITE.
Ob das die Botschaft dieses Buches sein soll, weiß ich nicht. Aber ich möchte es stark annehmen.
Zum Inhalt
Mae Holland, 24 Jahre jung, ist nach ihrem Studium wieder in der Kleinstadt ihres Heimatortes gelandet und arbeitet dort bei den Strom- und Gaswerken. - Laaangweilig und völlig uncool!
Als ihr über den Kontakt zu einer ehemaligen Kommilitonin ein Job in DER angesagten Firma überhaupt angeboten wird, muss sie nicht lange überlegen. Es handelt sich um einen riesigen modernen hippen Konzern (der Circle), der sämtliche E-Mail-Konten, Websites, Social Media Profile und Bezahlungssysteme unter sich vereint. Die Benutzer brauchen sich nicht mehr mit verschiedenen Passwörtern und Benutzernamen herumzuschlagen – es gibt nur noch ein Konto, eine Identität, ein Passwort und ein Zahlungssystem pro Person. Mega, oder?
Mae wird in der Kundenbetreuung eingesetzt und macht ihre Sache gut. Sie muss nur darauf achten, dass ihr Rating die "95" nicht unterschreitet; bei der Ziffer handelt es sich um die Zufriedenheitsbewertung der Kunden. Sobald diese ihr keine 100% attestieren, verschickt sie eine Rückfrage, was ihnen an einer optimalen Beratung gefehlt habe - und bekommt in den meisten Fällen prompt die erwünschten 100.
Darüber hinaus geht es natürlich darum, möglichst viele Kundenanfragen innerhalb einer bestimmten Zeit zu beantworten. Der Gang zum Klo wird schwierig. Das Mittagessen muss häufiger mal ausfallen, wenn sie hier Karriere machen will.
Und das will sie und macht sie! Mae ist Feuer und Flamme und total überzeugt von dem innovativen und schnell expandierenden Konzern und dessen Firmenpolitik. Auch als sie einen 2. Bildschirm auf ihren Schreibtisch bekommt, auf dem ihre Vorgesetzten mit ihr jederzeit in Kontakt treten können und auf die sie selbstverständlich sofort reagieren muss.
Ein dritter Bildschirm folgt bald darauf für die Fragen der Neulinge, die sie beantworten muss, während ihre eigene Arbeit weiterläuft und die Bosse ihre Aufmerksamkeit fordern. - Ja, es werden noch weitere folgen!
Doch das Angebot für die Mitarbeiter auf dem riesigen schicken Campus ist unschlagbar und lässt keine Wünsche offen. Für alles ist hier gesorgt: Restaurants, in denen Sterne-Köche kostenlos ihre Gerichte anbieten, verschiedene Fitness-Studios, Kinos, Theater, After-Work-Lounges und Bars … Ein Event folgt dem anderen, eine Party toppt die nächste.
Eigentlich braucht man die Firma gar nicht mehr zu verlassen, der gesamte Freizeitbereich ist hier kostenlos abgedeckt. Das ganze Sozialleben findet auf dem Konzerncampus statt. Auch sämtliche Einkäufe kann man vor Ort erledigen. Ein Traum!
Doch schon bald muss Mae lernen, dass sie das großartige Angebot nicht nur nutzen darf, sondern muss. Es wird von ihr erwartet, dass sie auch ihre Freizeit im Circle verbringt. Denn wo fände sie ein besseres Angebot?
Als Mae nach dem Besuch ihrer Eltern ihrem alten Hobby - dem Paddeln - nachgeht, hat das schwerwiegende Folgen. Sie wird in die Chefetage zitiert. Denn dem Konzern bleibt nichts verborgen. Im gesamten öffentlichen Raum sind winzig kleine Kameras installiert, die zu mehr Sicherheit führen sollen; und tatsächlich ist die Kriminalitätsrate drastisch zurückgegangen.
Mae erfährt, dass sie während ihrer Abwesenheit verschiedene halbobligatorische Veranstaltungen verpasst habe. Überhaupt sei ihr Verhalten höchst unsozial. Wenn sie schon einem Hobby außerhalb des Campus nachgehe, dann habe sie dieses auch in Form von Fotos oder Videos zu dokumentieren und ins Netz zu stellen, damit auch andere, zum Beispiel körperlich eingeschränkte Leute, an ihren Paddel- und Naturerlebnissen teilhaben können. Nach dem Motto: Teilen ist Heilen.
Prompt bekommt sie einen weiteren Bildschirm auf den Schreibtisch gestellt, auf dem sie parallel zu ihrer Arbeit Social Media betreiben soll. Selbstverständlich gibt es auch hier Ratings und Rankings, die von den Vorgesetzten verfolgt werden.
In ihrer Karrieregeilheit merkt Mae nicht, wie sie sich nach und nach entmenschlicht. Es geht nur noch um Zahlen und Ziffern. Ihre Eltern und auch ihr Ex-Freund erkennen sie kaum wieder. Alle gut gemeinten Warnungen seinerseits schlägt sie in den Wind. Für sie ist er der Außenseiter, der Uncoole, der Looser, der bloß neidisch auf ihren hippen Job ist, in einer Firma, die auf einer weltweiten Erfolgswelle schwimmt und fast ausschließlich junge Leute unter 30 beschäftigt.
Von der sukzessiven Gehirnwäsche bekommt Mae nichts mit. Sie verschließt die Augen vor ihrer Selbstausbeutung und der absoluten Kontrolle des Circles über sämtliche Lebensbereiche.
Das Hamsterrad dreht sich immer schneller. Schließlich erklärt sie sich sogar bereit, "transparent" zu werden - wie etliche Politiker vor ihr, um Korruption, Intrigen und Hinterzimmergeschäfte unmöglich zu machen.
Eine ihr umgehängte Kamera dokumentiert fortan jeden einzelnen ihrer Schritte. Privatsphäre hat sie komplett aufgegeben. Jedes von ihr geführte Gespräch wird protokolliert, alles was sie sieht, kann jeder ihrer Follower sehen und wird in Datenbanken verwahrt, zu denen jeder jederzeit Zugriff hat. Denn Mae ist inzwischen ein Star mit vielen Fans.
Als ein neues Programm anläuft, das sämtliche Kinder mit einem eingepflanzten Trackingchip versieht (nur um Kidnapping unmöglich zu machen, versteht sich), regt sich zum ersten Mal Widerstand innerhalb des Konzerns. Ein Mitarbeiter, zu dem Mae ein heimliches sexuelles Verhältnis pflegt, entpuppt sich als „Verräter“ und bringt sie damit in eine äußerst heikle Lage.
Meine Rezeption
Nein, in diesem Roman geht es nicht um vielschichtige Charaktere oder einen schönen Sprachstil, wie ein Rezensent bekrittelte, hier geht es um die pure gruselige Wirklichkeit. Diese Story muss einfach erzählt werden. Und der Autor weiß, wovon er schreibt. "Der Circle" ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Pageturner.
Das Perfide daran ist, dass man als Leser der Firmenpolitik des Circle zunächst selber positiv gegenübersteht. Alles klingt logisch und plausibel. Schließlich gilt es, die Welt für alle etwas sicherer und besser zu machen. Wer will das nicht?
Erst wenn es für eine Umkehr zu spät ist, erkennt man die Kehrseiten des Systems - die Grenzüberschreitungen.
Was spricht dagegen, durch permanente Überwachung der eigenen Vitalfunktionen Krankheiten vorzubeugen oder sogar zu verhindern? (Smartwatches lassen grüßen!)
Mae ist verpflichtet, auf ihre Gesundheit zu achten. Ihre Vitalwerte werden direkt an ihre Ärztin weitergeleitet. Diese zitiert sie zu sich - zum Beispiel, wenn Mae sich nicht gesund genug ernährt oder zu wenige Schritte am Tag gemacht hat.
Sorge um die alten Eltern, dass diese in ihrem Haus stürzen und hilflos daliegen? Kein Problem mehr mit der Live-Videoüberwachung aus jedem Winkel der Wohnung. (Wie? SmartHome haben Sie längst? Tja! - Ich weiß, ich weiß, nur damit Sie im Urlaub bequem zuschauen können, wie in Ihr Haus eingebrochen wird, oder kontrollieren können, ob Ihr Nachbar die Pflanzen auch wirklich nach Anweisung wässert. )
Als bei Vorstellung dieses Systems der Referent seine eigenen Eltern, die nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Badezimmer kommen, dem gesamten Auditorium vorführt und dieses zu lachen beginnt - spätestens da beschleicht einen ein mehr als ungutes Gefühl. Und das bereits auf Seite 83 von 558.
Wo sind die Grenzen? Wann werden sie überschritten? Wer hat ein Auge darauf? Wer gebietet Einhalt? Wo fängt Missbrauch an - und vor allem, worin endet er?
Vieles in dem Buch, was als Neuheit präsentiert wird, ist längst Wirklichkeit geworden.
An vieles haben wir uns bereits gewöhnt. Auch an die Grenzüberschreitungen.
Die Mahner und Warner sind müde geworden. Die als Ewiggestrige abgekanzelten Bedenkenträger haben aufgegeben; sie werden nur noch belächelt. - In Wirklichkeit wie auch in diesem Buch.
Nach der Lektüre des Romans wäre die logische Folge, sofort komplett analog zu gehen und die digitale Welt in ihrem Wahn sich selbst zu überlassen.
Tja, nur dann könnten Sie meinen Blogbeitrag jetzt nicht lesen. Wollen Sie das wirklich??!
Wie immer gilt es abzuwägen. Mit Sinn und Verstand.