Klassiker der englischen Literatur
Tess of the d'Urbervilles
Wenn man sich für englische Literatur und die viktorianische Epoche interessiert, so wie ich, kommt man an Thomas Hardy (1840 - 1928), den Umstrittenen, nicht vorbei. Um ihn zu lesen, sollte man allerdings in einer stabilen Verfassung sein. Denn er ist der Meister der dramatischen Wendungen und an die Nieren gehenden Liebestragödie.
Auch diesmal musste ich mich hinterher erst einmal fangen und das Schicksal der Romanfiguren verdauen, bevor ich ein anderes Buch zur Hand nehmen konnte. Das dauert dann schon mal ein paar Tage.
Als Ausgleich zu der schweren Kost, habe ich einen Thriller gewählt! Denn Umhauen kann mich jetzt so schnell nichts mehr.
Hardy gewährt mit jedem seiner Romane detaillierte Einblicke in das englische Landleben Ende des 19. Jahrhunderts. Maschinen erobern die Landwirtschaft bis in den letzten Winkel des Königreiches, denen der Mensch sich unterzuordnen hat oder seine Existenz verliert.
Sein großes Thema aber ist der Kampf des Individuums um Selbstbestimmung. Die religiösen, moralischen und gesellschaftlichen Konventionen stehen seinem Glück entgegen und treiben ihn zuweilen in den Abgrund.
Das Erstaunliche daran: Diese altmodisch anmutenden Themen sind durchaus aktuell. Zumindest was den Kampf des Individuums um selbstständiges Denken anbelangt.
Waren es damals Dreschmaschinen oder das Fließband, sind es heute Algorithmen oder eine KI, dem der Mensch sich in seiner Arbeitswelt unterzuordnen hat.
Und wer sollte es besser wissen als wie Deutschen mit unserem stets erhobenen Zeigefinger, wie viel Macht die Moral über unser Urteilsvermögen hat? Waren es damals kirchliche oder gesellschaftliche Dogmen, so ist es heute der sogenannte Mainstream der Medien und Meinungsmacher.
Zum Inhalt
Normalerweise werde ich mich nicht so ausführlich über den Inhalt eines Buches auslassen wie jetzt. In diesem Fall ist es mir allerdings wichtig, um die Komplexität der Handlung und die Tiefe der Charakterisierungen darzustellen, was ich natürlich nur grob vereinfacht tun kann.
Tess, die bildschöne und bildungshungrige Tochter eines Häuslers (Bauer ohne eigenen Boden), soll der Familie aus ihrer Armut helfen, indem sie sich an einen bisher unbekannten Zweig der Familie wendet – einer reichen Witwe. Die erkennt die Verwandtschaft jedoch nicht an, stellt Tess aber als Gänsemagd ein. Ihr nichtsnutziger Sohn, der Lebemann Alec d'Urbervilles, schlawenzelt um das schöne Kind herum, bis diese in ihrer Einfalt seinem Drängen nachgibt. Vielleicht aber hat er sie auch gewaltsam genommen, das lässt Hardy im Dunkeln.
Es kommt, wie es kommen muss. Tess wird schwanger. Beschämt kehrt sie nach Hause zurück. Der Kindsvater und auch die Tante lassen sie hängen. Tess' Baby wird geboren und stirbt schon bald an einem Fieber.
Als die Not in ihrem Elternhaus zu groß wird, verdingt sich Tess in einer Meierei. Dort geht es lustig zu und sie findet Freundinnen. Unter den Meierei-Leuten befindet sich auch Angel Clare, Sohn eines Methodisten-Pfarrers, der entgegen dessen Wunsch Landwirtschaft statt Theologie studiert. Die Meierei ist sein Studienobjekt. Natürlich verlieben sich alle Mägde auf dem Hof in den feinsinnigen Harfenspieler. Auch Tess. Und es dauert nicht lange – oder doch: es dauert sogar ziemlich viele Buchseiten, bis Angel sich endlich eingesteht, dass auch er in Tess verliebt ist.
Tess jedoch traut sich wegen ihrer unrühmlichen Vergangenheit nicht (damals sprach man von einem gefallenen Mädchen, wenn man als unverheiratete Frau nicht mehr jungfräulich war), sich offen zu dieser Liebe zu bekennen. Sie fühlt sich aus moralischen Gründen seiner nicht würdig.
Und Angel befürchtet, dass seine Familie eine Schwiegertochter aus der unteren sozialen Schicht nicht akzeptieren würde. Dass Tess in Wirklichkeit von einer "alten" Familie abstammt, hat sie ihm bisher verschwiegen, weil er mehr als einmal betont hatte, dass er die alten versnobten Familien verabscheut. Er schwärmt eher für das einfache Leben auf dem Lande und für das reine unschuldige Naturkind, das er in Tess vor sich zu haben glaubt.
Trotz aller beidseitiger Bedenken wird schließlich die Hochzeit eingefädelt und findet auch statt: am Neujahrstag in einer anderen Pfarrei - ohne Gäste, ohne Familie. Nur die beiden Brautleute inmitten der unwirtlichen Natur.
Wo in anderen Romanen ein Happy End erreicht ist, nimmt bei Hardy die Tragödie erst ihren Anfang. Denn beide Liebenden haben sich geschworen, sich in ihrer Hochzeitsnacht alles zu erzählen und keinerlei Geheimnisse mehr voreinander zu haben.
Angel gesteht, dass er demnächst ins Ausland reisen möchte, um in den Kolonien nach Grund und Boden Ausschau zu halten. Er will sich dort als Landwirt selbstständig machen. Ob sie bereit wäre, mit ihm England – und somit ihre Familie – zu verlassen. - Natürlich ist sie das.
Ach ja, und zu seiner Londoner Zeit habe er sich in den Armen einer älteren Frau ausgetobt. - Schwamm drüber!
Als Tess ihm erzählt, dass ihre Familie von der normannischen Familie d’Urbervilles abstammt, ist Angel entgegen ihrer Befürchtung nicht enttäuscht, sondern erleichtert, weil sie dadurch der Familie seines Vaters ebenbürtig und der gesellschaftliche Unterschied damit ausgeglichen wäre.
Doch dann erfährt er, dass Tess einst von einem falschen Abkömmling ihrer alten Familie geschwängert wurde.
Dass sie zu der Zeit fast noch ein Kind und daher völlig ahnungslos war, was zwischen Mann und Frau passieren kann, und zudem den Verführungskünsten des skrupellosen Alec d’Urbervilles machtlos ausgeliefert, lässt Angel in seiner Enttäuschung über den Verlust der "Unschuld vom Lande" nicht gelten. Er verlässt sie noch in derselben Nacht.
Angel geht nach Brasilien. Tess schlägt sich weiterhin als Landarbeiterin durch. Das Geld, das Angel ihr dagelassen hat, geht für die Reparatur des Elternhauses drauf. Sie ist zu stolz, um sich in ihrer Not bei ihrem noch unbekannten Schwiegervater zu melden und diesen um Geld zu bitten. Die ärgsten Arbeiten nimmt sie an, um die Familie durchzubringen. Beide Eltern sprechen dem Alkohol zu und sind nicht gerade sehr lebenstüchtig, die Geschwisterkinder noch klein.
Eine schlimme Zeit beginnt für die beiden Liebenden, die von Armut, Krankheit und Tod gekennzeichnet ist. Tess hört niemals auf, Angel zu lieben und hofft auf seine Rückkehr. Monatelang erhält sie jedoch keine einzige Zeile von ihm.
Diesen Umstand nutzt der großer Verführer Alec d’Urbervilles aus und macht sich erneut an Tess heran. Er wolle seine Sünden an ihr wieder gutmachen. Er liebe sie. Er wolle ihrer Familie aus der Armut helfen. Auf ihren Mann brauche sie nicht zu warten, der komme nicht wieder zu ihr zurück, sonst hätte er ihr längst geschrieben.
Lange Zeit widersteht Tess den Versprechungen dieses Mannes. Als Angel tatsächlich nach mehr als einem Jahr nach England zurückkehrt mit der Absicht, sich endlich zu Tess zu bekennen, findet er eine völlig veränderte Situation vor.
Das blutige Drama nimmt seinen Lauf.
Das Besondere des Romans
520 Seiten braucht es nicht für die Handlung, sondern für die vielen Gedanken und Gefühle der beiden Romanhelden. So viele Bedenken stehen ihrer Liebe im Weg. So viele moralische und religiöse Fesseln halten sie zurück.
Dabei spart Hardy nicht an Kritik an der Institution Kirche und der viktorianischen Gesellschaft. Die Rezeption dieses 1891 erschienen Romans – sein vorletzter – war daher äußerst umstritten.
Die negative Kritik, die auf Hardy einprasselte, war derart heftig, dass er - obwohl längst als erfolgreicher Schriftsteller etabliert - allen Ernstes in Erwägung zog, das Romanschreiben aufzugeben. Das tat er vier Jahre später dann tatsächlich, als die Kritiken ihn nach der Veröffentlichung von "Jude the Obscure" vernichtend schlugen.
Bei der Leserschaft hingegen kam "Tess" gut an und bescherte ihm hohe Auflagen. Auch im Ausland.
Hardys Romanfiguren sind komplex und tiefgründig, seine Texte philosophischer und die Handlungen realistisch-dramatisch-tragischer Natur.
Beschönigungen: Fehlanzeige. Trost: Fehlanzeige. Hoffnung: Fehlanzeige. Das muss man erst mal aushalten können!
Und doch ist die dichte Struktur seines Lektüregewebes so einzigartig und mächtig, dass es ein Leben lang an einem haften bleibt. Das schaffen nur wenige Romane. "Tess" hat es getan.
Verfilmung
Roman Polanski hat den Roman 1979 verfilmt. In der Hauptrolle war die damals blutjunge Nastassja Kinski zu sehen.
Der Film hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Zwar habe ich mich an die Handlung nicht mehr erinnern können, aber von der ersten Zeile an hatte ich das Gesicht der jungen Kinski vor Augen. Sie ist meiner Meinung nach die ideale Besetzung für diese Rolle gewesen, weil ihre Gesichtszüge die Charaktereigenschaften der Romanfigur hervorragend widergespiegelt haben. Das unschuldige Kind vom Lande gepaart mit femininen Reizen nimmt man ihr bedenkenlos ab. Großartig!
Aber wer weiß, wie ich den Film heute bewerten würde. Vor allem nachdem ich das Buch gelesen habe. Ich stelle es mir äußerst schwierig vor, diesen Stoff atmosphärisch umzusetzen. Polanski ist es jedoch -meiner Erinnerung nach - gelungen.
Falls auch Sie "Tess" als Film gesehen oder als Buch gelesen haben, teilen Sie mir gerne Ihre Meinung dazu mit.